The Wire

The Wire hasn’t won an Emmy?
It should get the Nobel Prize for Literature!

      — Joe Klein (TIME)

Viel wurde bereits geschrieben in den zurückliegenden Jahren über die HBO-Serie „The Wire“ und ich komme wohl reichlich spät zu dieser Party. Eigentlich ist es eine Schande, dass ich erst jetzt, mehr zwei Jahre nach dem Ende der Serie und in einem deutlich über den Zenit geschrittenen sablog, einen ersten ausführlichen Eintrag zu „The Wire“ verfasse.

Vielen von euch erzähle ich nichts neues, wenn ich kurz die Handlung der Show zusammenfasse. Ich werde es dennoch möglichst spoilerfrei halten. „The Wire“ porträtiert den alltäglichen Sisyphus-Kampf der Polizeikräfte in Baltimore gegen das weit verzweigte Drogenbusiness in den sozialen Spannungsvierteln der Metropole. Dabei wird ein düsteres und über weite Strecken geradezu deprimierendes aber gleichzeitig höchst faszinierendes und detailreiches Bild von der Stadt und ihren undurchdringbaren Machtstukturen gezeichnet. Korruption und Vetternwirtschaft bestimmen das Bild, zahlreiche vermeintliche Führungspersönlichkeiten im Police Department sind in zweifelhafte Machenschaften verstrickt. Individuelle Initiativen von engagierten Polizisten werden oftmals bestraft, allerorten schaut man nur auf die Kriminalstatistik und nimmt auch fragwürdige Aktionen in Kauf, um einfach irgendwie die Zahlen zu beschönigen und im nächsten Wahlkampf als Erfolg darstellen zu können.

Auf der anderen Seite wird ein beklemmender Einblick in den Alltag der Bevölkerung in den vom Drogenhandel am meisten betroffenen Bezirken in Baltimore gezeigt. Die Drogenkartelle bestimmen nicht nur das Geschehen in den heruntergekommenen Drogenhochburgen, sondern haben auch einflussreiche Beziehungen auf die politischen Elite der Stadt. Schon vom Kindesalter an wird eine Generation nach der anderen einzig für das Überleben auf der Straße erzogen, öffentliche Schulen in Baltimore haben in vielen Fällen längst kapituliert und sind auch nur noch bemüht, am Ende des Schuljahres irgendwelche Statistiken zu frisieren.

In diesen Dschungel aus persönlicher Vorteilnahme, Intim-Feindschaften und organisierter Kriminalität soll sich im Baltimore Police Department eine neue Sondereinheit auf die besonders schweren Kapitalverbrechen des Drogenrings der Drogen-Legende Avon Barksdale fokussieren. Doch schon von Beginn an leidet diese Truppe unter der Führung von Lt. Cedric Daniels unter personellen und finanziellen Engpässen, bürokratischen und juristischen Hürden sowie Inkompetenz und Unwillen einiger beteiligter Ermittler. Zudem führt Avon Barksdale eine hocheffiziente und auf Sicherheit getrimmte Organisation, welche die Ermittlungsarbeit extrem schwierig macht. Der einzige Angriffspunkt scheint eine Überwachung der Telefongewohnheiten des Drogenrings zu sein, doch die Beamten kämpfen oftmals mit stumpfen Waffen gegen die gut und schlau aufgestellten Kriminellen, die ohne zu zögern über Leichen gehen.

„The Wire“ malt dabei nicht nur ein einfaches prozedurales Schwarz/Weiß-Bild von „Gut“ und „Böse“ oder „Cops gegen Drogenbosse“. Eines der zentralen Philosophien der Serie ist die Erkenntnis, dass Menschen in der Regel nun mal nicht in solch ein einfaches Raster passen. Die vermeintlichen „Helden“ der Serie, die auf der Seite der Polizei oftmals aufopferungsvoll gegen die Kriminalität kämpfen und sich rasch beim Zuschauer Sympathien erstreiten, haben selbst eine schattenreiche Vergangenheit oder hadern mit ganz persönliche Dämonen in ihrem Berufs- oder Privatleben. Selbst wenn den Ermittlern nach langer, penibler Arbeit mal ein Schlag gegen den Drogensumpf gelingt, ist der Triumph oft nur von kurzer Dauer, der Pyrrhus-Sieg verpufft schon wieder nach kurzer Zeit. Die Drogenbosse wiederum (und auch die kleinen Rädchen im System auf der Straße) werden ebenfalls als vielschichtige Charaktere gezeichnet, mit eigenen Idealen, Träumen und Zielen. Auch bei ihnen gibt es zahlreiche „Grauabstufungen“ — viele hatten nie eine Wahl, als im Drogensumpf zu versinken, während andere ganz bewusst diesen Weg wählen.

Um die Authentizität der Geschichte zu erhöhen, schrecken die Autoren der Serie nicht davor zurück, zentrale und liebgewonnene Charaktere auf brutale Weise aus der Serie zu schreiben, selbst wenn sie eigentlich noch einen interessanten Weg vor sich hätten. Man kann sich nicht sicher sein, ob eine Hauptfigur die nächste Episode überleben wird – nur weil der Darsteller vermeintlich durch langfristige Verträge an die Produktion gebunden ist. Dabei sind alle Handlungen und Personen eng miteinander verknüpft — jede Handlung hat irgendwann eine Konsequenz, möglicherweise auch erst einige Jahre/Staffeln später. So belohnt die Serie ihre treuen Zuschauer auf besondere Weise: Es ist oftmals faszinierend darüber nachzudenken, welche Ereignisketten über den Lauf vieler Staffeln und unter Einbindung zahlreicher Charaktere erforderlich waren, um ein bestimmtes Ergebnis zu bewirken. So kommt es nicht von ungefähr, dass man nach dem Ende der Serie am liebsten wieder von vorne beginnen möchte, da man nun all die Zusammenhänge und Backstories kennt, die manchen Ereignissen und Lebensläufen in den frühen Staffeln eine neue Bedeutung verleihen.

„The Wire“ ist in jeglicher Hinsicht ein Gesamtkunstwerk, man kann einzelne Staffeln kaum getrennt voneinander betrachten. Dennoch ist eine Standard-Frage unter Wire-Fans die Frage nach der „besten“ Season. Mein Favorit ist wohl Season 4, gefolgt von 1, 5, 3 und schließlich 2. Die vierte Staffel mit ihrem Schwerpunkt auf den jungen Hoppers von Baltimore hat mich am meisten berührt, deren oftmals herzzerreißenden Lebensgeschichten haben mich am stärksten fasziniert. Season 1 wiederum legte erst den Grundstein für den Rest der Show und setzte damit aber auch schon einen hohen Standard. Season 5 zeigte (leider stellenweise etwas überhastet), wie alles miteinander verknüpft ist. Season 3 hatte großartige „Bösewichter“ mit Stinger und Omar, aber nachdem ich im DVD-Menu einmal aus Versehen die falsche Folge auswählte und somit die Reihenfolge durcheinanderbrachte, war der Rhythmus der Season für mich etwas dahin. Bei Season 2 schließlich stimme ich mit vielen anderen Fans überein, dass diese Staffel zwar eine großartige Geschichte erzählte, aber dennoch etwas aus dem Rahmen der restlichen Staffeln fiel und eigentlich erst in Season 5 quasi nachträglich enger in die Gesamthandlung eingebunden wurde.

Es gäbe noch so viel mehr zu der vielschichtigen Serie zu schreiben, man könnte wohl zu jeder einzelnen Episode ein langes Essay verfassen wie man es sonst vielleicht nur bei Inhaltsanalysen von Romanen und anderen Literaturerzeugnissen kennt. Ich kann hier bestenfalls an der Oberfläche kratzen, alternativ wird das ein „Too Long, Did Not Read“-Eintrag :). Als nachbereitende Lektüre zu jeder Episode kann ich aber die ausführlichen Besprechungen von Alan Sepinwall empfehlen.

Kommen wir zur vermeintlichen Gretchen-Frage: Ist „The Wire“ die beste Serie aller Zeiten?

Ich habe einige Zeit gebraucht, um ansatzweise zu verstehen, warum es mir so schwer fällt, diese Frage eindeutig mit einem „ja“ zu beantworten. „The Wire“ ist ohne jeglichen Zweifel ein atemberaubendes Dokument der Zeitgeschichte, die bisherige Krönung televisonärer Erzählkunst und ich rechne fest damit, dass es diesen Status noch in einigen Dekaden aufrecht erhalten wird. Doch „The Wire“ ist meilenweit von dem üblichen Verständnis einer „Fernsehserie“ entfernt. Der Begriff wirkt geradezu seltsam unpassend für „The Wire“, zu oft wurde der Begriff in den zurückliegenden Jahrzehnten durch minderwertige Produktionen mit negativen Assoziationen besetzt. Eigentlich würden diese 60 Stunden einen eigenen Gattungsterminus verdienen. Das Zitat zu Beginn des Eintrags (aus den Bonus-Materialien der finalen Staffel) kommt wirklich nicht von ungefähr: Statt einem Emmy (den die Serie nie erhalten hat) wäre vielleicht eher ein Literatur-Preis angebracht.

Als ich meinen „The Wire“-Marathon für einen komprimierten Ausflug in die vierte Auflage der „Mad Men“-Zeitreise unterbrach, wurde mir erneut bewusst, wie lächerlich derartige Kriterien wie „beste Irgendwas“ eigentlich im Bezug auf solche Produktionen sind. Beides sind Werke, die ich als absolute Highlights der TV-Kunst bezeichnen würde. Aber ist eine Serie „besser“? „Mad Men“ fasziniert mich auf einer vollkommen anderen Ebene als „The Wire“. Während ich „The Wire“ für seine gesellschaftspolitische Ernsthaftigkeit bewundere, sehe ich wiederum die stilistische Erzählweise von „Mad Men“ als außergewöhnlich an. Während „Mad Men“ trotz der komplex gestalteten Charakterprofile in erster Linie unterhalten will, sehe ich in „The Wire“ auch eine bemerkenswerten Willen zur Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse unserer Gegenwart, der mit einem eindrucksvollen Erzählstil kombiniert wird.

Fazit: All den Pessimisten, die generell alles aus dem TV mit Verdummung gleichsetzen (und weltweit leider in 95% aller Fälle vollkommen Recht haben), sei dieses monumentale Werk als kleine Insel der Hoffnung empfohlen. Produktionen wie „The Wire“ sind der Grund, warum es sich auch heutzutage noch lohnt, einen Flatscreen neben die Bücherregale an die Wand zu hängen und nicht aus Prinzip alles schlecht zu reden, was aus der Flimmerkiste kommt. Sie sind selten, aber es gibt sie.

Wer das DVD-Set immer noch nicht in der Sammlung hat, der hat jetzt zu „Cyber Monday“ und „Christmas-Shopping“-Zeiten öfters gute Gelegenheiten, ein Schnäppchen zu machen. Bei Amazon.co.uk gibt es das komplette Set wie wohl jedes Jahr um diese Zeit aktuell wieder für den Tiefstpreis von 49.99 Pfund, leider ist der Pfund-Wechselkurs zum Euro aber gegenwärtig etwas „suboptimal“.

6 Antworten

  1. 1
    S. schrieb:

    Vermutlich ist jede Sekunde Leben komplexer als tausend Stunden hochklassig erzählter Geschichten. Wenn aber eine Serie jemals näher an dieser Sekunde war, dann „The Wire.“ Deshalb: Ein Gesamtkunstwerk. Ich möchte keine Folge keiner Staffel missen, wobei mich auch Staffel 4 am stärksten mitgenommen hat.

  2. 2
    jan schrieb:

    Wie passend!
    Ich habe gerade ebenfalls einen wochenlangen Wire-Marathon hinter mir, der letztes Wochenende mit Staffel 5 leider endete.
    Auch mir fehlt es momentan noch ein wenig an Worten, um das Gesehene einzuordnen. Fest steht, dass ich es auf eine Art genossen habe, wie ich es am ehesten noch aus West Wing-Zeiten kenne. Nicht 24-suspensemäßig zwingend, trotzdem immer grandios.
    Nicht zuletzt wegen des für Serien-TV ausgefallenen Rahmens („Kleinstadt“, Milieu wird gezeigt fernab vom gängigen Schwarz/Weiß-Denken) verdienen die Macher mehr Respekt, als die Entertainment-Industrie ihnen seinerzeit zollte. Freut mich zu lesen, dass posthum gerade über die DVD-Sales eine größere Fanschar erschlossen werden kann.
    Jedenfalls Danke für Deine Zeilen, in denen ich mich sehr wiedergefunden habe…

  3. 3
    Ralph schrieb:

    Sehr gute und treffende Analyse. Die Gretchenfrage, ob „The Wire“ die beste Serie aller Zeiten ist, kann wohl nur von Menschen eindeutig beantwortet werden, die außer „The Wire“ vielleicht noch drei, vier andere Serien gesehen haben. Exzessive TV-Junkies haben es da deutlich schwieriger. Klar, die Serie ist aus so vielen objektiven Gründen grandios – es fällt unglaublich schwer irgendein Haar in der Suppe zu finden. Als Fernsehen von literarischem Format und gesellschaftspolitischer Relevanz ist „The Wire“ vielleicht sogar tatsächlich vorerst unschlagbar.
    Ich beantworte die Frage nach der besten Serie aller Zeiten immer mal wieder gerne unterschiedlich. „The Wire“ wird mittlerweile sehr oft genannt, manchmal – wenn mich die Nostalgie packt und das fragende Gegenüber der Materie eh nicht sonderlich zugetan ist – kann die Antwort auch „Buffy“ heißen. Bevor ich „The Wire“ gesehen habe, war mein Favorit meistens „Six Feet Under“ und als die Season 3 von „Breaking Bad“ gerade lief war auch diese Serie mal die Nummer 1. Keine Ahnung, wie es bei einem Rewatch der „Sopranos“ wäre. Schön, dass sich die Mehrheit der Feuilletons so schnell auf „The Wire“ einigen konnten – ich tu mir da immer wieder aufs Neue etwas schwerer.

  4. 4
    sab schrieb:

    @S: Genau, die Authentizität und die Realitätsnähe von „The Wire“ sind auch in meinen Augen unerreicht. Zeitweise hat die Produktion geradezu einen dokumentarischen Charakter. Das Tourismus-Departement von Baltimore empfand jedoch sicherlich nicht ganz so positiv 🙂

    @jan: Der enttarnende Blick hinter die Kulissen hat auch mich an die frühen Staffeln von „West Wing“ erinnert. Bei Sorkin stand die Unterhaltungs-Komponente (und die Network-Bosse) dann aber doch noch deutlicher im Konzept. Zudem hatte Sorkin das Problem, pro Staffel 22 Episoden zu produzieren. Vielleicht schaue ich mal in „Homicide“ rein, in gewissem Sinne die Vorgängerserie von „The Wire“ — da hatte ich bisher nur ein paar Episoden gesehen.

    @Ralph: Tja, die „beste“ Serie ist wohl oft auch diejenige, die man gerade (oder zuletzt) mit Inbrunst schaut. Da ist die Erinnerung frisch und man hat viel Zeit in die Charaktere investiert. Aber „The Wire“ ist eine der wenigen Serien, die ich auch „Fernseh-Hassern“ empfehlen würde, was sie dann doch etwas von anderen Produktionen abhebt. Oh, und gute Idee mit dem „Sopranos“-Rewatch. Muss ich auch irgendwann mal in einem Rutsch anschauen und sehen ob die Show dann anders wirkt, als in einzelnen Season-„Häppchen“.

  5. 5
    Ralph schrieb:

    Das mit den Fernseh-Hassern, ist genau der Grund, warum ich auch so oft mit „The Wire“ antworte. War übrigens für viele Leute dann auch eine Art Dosenöffner und sie haben dann gleich gefragt, was sie als nächstes anschauen sollen.
    Ich habe „Sopranos“ übrigens gleich beim ersten Mal in einem Rutsch durchgeguckt. Hatte einen ähnlichen Effekt, wie der „The Wire“-Marathon. Vielleicht verwundert es mich deshalb oft, dass viele Kritiker die Seasons zwischen 1 und 6.2 so deutlich schwächer einschätzen.

  6. 6
    Christian Buggisch schrieb:

    Und auch vier Jahre später ist The Wire immer noch ein Meisterwerk und absolut sehenswert, obwohl wir mit grandiosen Serien inzwischen (zum Glück) überhäuft werden. Optisch wirkt sie nach zehn Jahren zwar zum Teil ein bisschen angestaubt, was aber auch am guten und vor allem alten 4:3 Format liegt, aber Erzählstruktur, Komplexität, Figuren: ein großes Vergnügen! Siehe auch: http://buggisch.wordpress.com/2014/03/10/ach-und-ubrigens-24-the-wire/

Antwort schreiben

XHTML: Du kannst die folgenden XHTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

 

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen